Die Ausgangslage

Die erschreckend hohe Zahl der Neuerkrankungen bei diabeteskranken Kindern und Jugendlichen veranlasste den Bunten Kreis Rheinland, das Projekt „Blutzuckersüß“ ins Leben zu rufen. Die Kinderhilfsorganisation möchte Eltern und Kindern Unterstützung und Hilfe geben, wenn sie nach der Diagnosestellung ihr häusliches Umfeld plötzlich der veränderten Lebenssituation anpassen müssen. Auf der anderen Seite sollen die Kinder und ihre Familien, die mit einer Diabeteserkrankung konfrontiert werden, lernen, ihre Probleme aus eigener Kraft zu erfassen und zu bewältigen. Denn gerade im privaten Umfeld erfahren an Diabetes erkrankte Kinder und deren Eltern oft Ausgrenzung aus Angst vor Komplikationen im Umgang mit dieser Krankheit. Dieser Scheu will der Bunte Kreis mit „Blutzuckersüß“ begegnen.

Tulus neuer Alltag

Tulu ist ein aufgeweckter 9-jähriger Junge, der sich leidenschaftlich gern bewegt. Bewegung und Ernährung müssen jedoch für ihn exakt abgestimmt werden, denn er ist eines von 15.000 Kindern, das in Deutschland unter Diabetes mellitus Typ 1 leidet. Tulu muss mehrfach täglich seinen Blutzucker messen und sich Insulin spritzen.

Die Familie floh aus Ostafrika, der Vater starb und die Mutter ist allein mit Tulu und dessen Schwester Ayana (7). Die Erkrankung ihres Sohnes und die Klinikaufenthalte brachten die Mutter, die kaum Deutsch versteht, an den Rand der Verzweiflung. Hier schaltete sich der Bunte Kreis ein und half zunächst, Mutter und Kindern die Krankheit verständlich zu machen und den täglichen Ablauf zu trainieren. Wilma Dubois, Nachsorgeschwester und Koordinatorin des Diabetes-Projektes „Blutzuckersüß“ beim Bunten Kreis übte das Rechnen in Broteinheiten mit der Familie und regelte zudem Formalitäten mit der Krankenkasse oder sorgte dafür, dass die Schule informiert und Tulus Mahlzeiten in der Mensa umgestellt wurden.

Mittlerweile haben sich Tulus Werte stabilisiert und die immer einmal auftretenden Phasen unregelmäßiger Blutzuckerwerte bewältigt die Familie zunehmend sicherer und gelassener. Zwar habe Tulu mehr Appetit auf Süßigkeiten als vor der Erkrankung, aber er hat inzwischen ein gutes Gefühl für seinen Zuckerspiegel bekommen. Ohne die helfenden Hände vom Bunten Kreis hätte sie es wohl nicht geschafft, sagt die Mutter in gebrochenem Deutsch.

Kein Zuckerschlecken

In Deutschland sind derzeit ca. 370.000 Menschen an Diabetes Typ 1 erkrankt – 32.000 von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Die Zahl der Neuerkrankungen steigt. Zunehmend sind bereits Kinder im Kindergartenalter betroffen. Um Eltern und Kindern Unterstützung im Umgang mit der Krankheit zu geben, hat der Bunte Kreis Rheinland 2013 das Projekt „Blutzuckersüß“ ins Leben gerufen. Dr. Wilma Dubois, Koordinatorin des Projektes, erlebt in ihrer Arbeit immer wieder, wie wohltuend sich die Unterstützung durch ein gut informiertes Umfeld auf die betroffenen Familien auswirkt.

Frau Dubois, was sind die häufigsten Reaktionen von Eltern unmittelbar nach der Diagnose?
Die Reaktionen sind ganz individuell und hängen u. a. vom Gesundheitszustand des Kindes bei der Aufnahme ins Krankenhaus ab. In erster Linie sind sie aber erst einmal geschockt und fassungslos, weil sie zunächst nicht überblicken können, was auf sie zukommt. Es ist, als wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Viele fragen sich auch: „Hätte ich das verhindern oder schon früher bemerken können? Was bedeutet diese Diagnose für uns und das Leben unseres Kindes?“

Was sollten Familien unmittelbar nach der Diagnose beachten?
Die Eltern müssen ad hoc verschiedene Dinge bewältigen. Sie müssen in kurzer Zeit die Therapie erlernen, mit eigenen Ängsten umgehen und ihren Kindern zugleich Zuversicht vermitteln. Der Familienzusammenhalt, aber auch die Geduld miteinander ist besonders wichtig, fördert die Krankheitsbewältigung und hilft Konflikte zu vermeiden. Wenn Geschwisterkinder in der Familie sind, sollten diese mit einbezogen werden, damit sie verstehen, warum ihr Geschwister derzeit so viel Aufmerksamkeit erhält. Einigkeit, Verlässlichkeit sowie ein klarer Weg bei der Durchführung der Therapiemaßnahmen schenken den betroffenen Kindern Sicherheit im Umgang mit ihrer Erkrankung.

Was ändert sich im Leben der Familien?
In erster Linie die Spontanität. Die Familien müssen plötzlich mehrfach am Tag Faktoren berücksichtigen, auf die sie vorher nicht achten mussten, wie: Blutzucker messen, Kohlenhydrate ausrechnen und Insulindosen berechnen. Ein spontaner Kaffeeklatsch oder Grillabend, eine Wanderung oder Radtour sind zwar weiterhin möglich, erfordern jedoch mehr Organisation.

... und wie ändert sich der Alltag der Kinder?
Es gibt verschiedene Dinge, die oft nicht mehr so selbstverständlich ablaufen können wie vorher, wie zum Beispiel Übernachtungen bei Großeltern oder Freunden. Die Messung des Blutzuckers und die Berechnung der Kohlenhydrate sind natürliche Hemmschwellen, die nur mit Hilfe von Information und Übung zu überwinden sind. Hier braucht es oft etwas Zeit, bis die Menschen im Umfeld der Familie sich sicher genug fühlen, diese Aufgaben zu übernehmen. Damit die Kinder dies nicht als Ausgrenzung oder Ablehnung empfinden, helfen ihnen Erklärungen in einfachen Worten und das geduldige Wahrnehmen und Ansprechen ihrer Gefühle. Vielleicht können sie, je nach Alter, auch schon zur „Schulung der Großeltern“ etwas beitragen, indem sie z. B. das Blutzucker messen zeigen oder einige Lebensmittel nennen können, die keine Kohlenhydrate enthalten.
Wenn Eltern und Kinder das Gefühl bekommen, dass die nun erforderlichen Maßnahmen und die notwendige Konsequenz vom Umfeld verstanden und mitgetragen werden, ist dies eine sehr wertvolle Hilfe und Unterstützung für die gesamte Familie.

Wie unterstützt der Bunte Kreis Rheinland die betroffenen Familien?
Unser Projekt „Blutzuckersüß“ gibt es mittlerweile seit 7 Jahren und wir haben unsere Angebote für die Familien kontinuierlich erweitert. Von Babysitterservice, über Familiencafés bis hin zu Kunstprojekten. In diesem Jahr sollte eigentlich unsere erste Wochenend-Freizeit für Diabeteskinder stattfinden, musste aber coronabedingt leider ausfallen. Der Hauptfokus liegt allerdings auf unseren Diabetes-Schulungen für pädagogische Fachkräfte, also für Lehrer*innen und Erzieher*innen. Durch dieses Schulungsangebot konnten wir helfen, anfangs bestehende Verunsicherungen und Ängste seitens der pädagogischen Fachkräfte zu reduzieren und zu überwinden und mit der Einrichtung praktikable Konzepte zur Betreuung des betroffenen Kindes zu entwickeln. Es wurde möglich, dass betroffene Kinder weiterhin in ihrer Einrichtung betreut wurden bzw. einen Kindergartenplatz bekommen haben – das ist leider nicht selbstverständlich.
Die Diabetes-Versorgung in Kita und Schule zählt nach wie vor zu den Hauptproblemen von Eltern und Kindern. Die Unsicherheit und damit verbundene Ängste der Betreuer sind deutlich spürbar. So manche Eltern waren schon an dem Punkt, ihre Arbeit aufzugeben, weil eine sichere Betreuung ihrer Kinder nicht gewährleistet war. Umso erfreulicher ist es auf engagierte Teams zu treffen, die hoch motiviert sich informieren und das Kind mit offenen Armen aufnehmen. Auch freue ich mich über die unbürokratische Unterstützung des Vereins ProKid e.V. aus Herdecke, der diese Schulungen zusammen mit dem Land NRW finanziell unterstützt.

Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit?
Wenn Kitas oder Schulen, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, die betroffenen Kinder zu versorgen, ist es eine weitere Möglichkeit, diese durch Integrationskräfte zu begleiten. Ich würde mir wünschen, dass im Bedarfsfall die Vermittlung schneller möglich wäre, um möglichst zügig Ruhe und Sicherheit bzgl. der Umsetzung der Therapiemaßnahmen zu ermöglichen. Vor einigen Tagen erzählte mir ein Vater, dessen Sohn in der zweiten Klasse ist, dass dieser mittlerweile sieben verschiedene Schulbegleiter hatte. In der Hoffnung, dass dies eher ein Einzelfall ist, wünsche ich mir für alle Kinder und Jugendliche mit Diabetes, unabhängig von der Art der Betreuung, eine konstante, zuverlässige und verständnisvolle Begleitung, die Routine, Sicherheit und Zuversicht im Umgang mit der Therapie vermittelt. Ein gut informiertes Umfeld kann einen großen Teil dazu beitragen.