Interview mit Familie Becker

„Sie sah aus wie ein nacktes Vögelchen, das zu früh aus dem Nest gefallen ist.“
Nach einer ganz unkomplizierten Schwangerschaft bekommt Anne Becker eines Abends plötzlich heftige Rückenschmerzen, die in den Bauch ziehen. Zusammen mit ihrem Mann fährt sie in die Klinik. Was sich wie der Anfang einer ganz normalen Geburtsgeschichte liest, ist alles andere als das. Denn Rosa, die Tochter der Beckers, kommt in der 26. Schwangerschaftswoche mit nur 620 Gramm per Notkaiserschnitt auf die Welt. Im Interview erzählt die junge Familie von der schwersten Zeit ihres Lebens.

Was genau ist damals passiert?
Anne: Als ich mit Rückenschmerzen in die Klinik fuhr, dachte ich noch: „Das wird schon nichts Schlimmes sein, wir können bestimmt gleich wieder nach Hause.“ Aber die Ärzte haben dann eine schwere Schwangerschaftsvergiftung mit HELP-Syndrom festgestellt. Die war für das Baby und für mich lebensbedrohlich. Rosa ging es zu diesem Zeitpunkt noch den Umständen entsprechend gut. Deshalb wollten die Ärzte erst einmal abwarten. Für Frühchen zählt jeder Tag. Doch dann war klar: Um mein Leben zu retten, muss unser Kind auf die Welt geholt werden.

Frederick, wie hast Du als Vater die Situation damals erlebt?
Frederick: Es war dramatisch! Ich durfte beim Kaiserschnitt zum Glück dabei sein und meiner Frau die Hand halten. Man sagte uns: „Wenn es ihrem Kind gut geht, zeigen wir es ihnen kurz. Wenn nicht, müssen wir es sofort in einen anderen Raum bringen und verkabeln.“ Wir durften Rosa kurz sehen und waren unendlich dankbar für diesen kleinen Hoffnungsschimmer.

Wie ging es danach weiter?
Anne: Ich konnte das alles überhaupt nicht begreifen und fühlte mich wie in einer Blase. Frederick durfte direkt auf die Frühgeborenen-Intensivstation, das war bei mir gar nicht möglich. Ich hatte starke Schmerzen und konnte lange nicht aufstehen. Die Schwestern haben mir Rosa einmal ganz kurz ins Zimmer gefahren, damit ich sie sehen kann, aber auch daran kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern.
Frederick: Drei Stunden nach der Operation durfte ich das erste Mal zu Rosa. Sie sah aus, wie ein kleines nacktes Vögelchen, das zu früh aus dem Nest gefallen ist. Sie war mit so vielen Schläuchen verbunden. Ihr Anblick war schon sehr schlimm für mich. Eine ganz unwirkliche Situation. An einem Tag ist noch alles in Ordnung und am nächsten Tag liegt da unser Kind, viel zu früh geboren. Wir hatten Angst um unser Kind, ich hatte Angst um meine Frau – es war ein absoluter Ausnahmezustand.

Gab es auch gute Tage?
Anne: Wir waren jeden Tag von morgens bis abends bei Rosa. Wir durften bei ihrer Versorgung helfen und haben alles gelernt, was im Umgang mit einem Frühchen wichtig ist. Man kommt sich selbst irgendwann wie ein Mediziner vor und fragt die Schwestern: „Wie sind ihre Blutwerte, wie ist die Sauerstoffsättigung?“ Gute Tage waren für uns, wenn Rosas Vitalwerte in Ordnung waren.
Frederick: Natürlich gab es auch schlechte Tage. Zum Beispiel, als wir die Nachricht bekamen, dass Rosa eine schwere Blutvergiftung hat. Infektionen sind bei Frühchen nicht unüblich, sie haben noch kein entsprechend ausgebildetes Immunsystem. Durch die vielen Zugänge an ihrem Körper sind sie extrem anfällig für Infektionen. Die Folgen sind gravierend. Bei Rosa war kurzzeitig nicht klar, ob sie die Infektion überlebt.

Was war das schönste Erlebnis für Sie?
Anne: Als wir das erste Mal mit Rosa kuscheln durften. Ich werde diesen Augenblick, als ich sie mit all den Kabeln und Schläuchen auf die Brust gelegt bekommen habe, niemals vergessen.
Frederick: Für unsere Kuscheleinheiten sind wir jeden Tag von Remagen bis in die Bonner Uniklinik gefahren. Und jeden Abend fiel es uns unendlich schwer nach Hause zu fahren.

An was erinnern Sie sich nicht so gerne?
Frederick: Wir hatten ständig Sorge, dass mitten in der Nacht ein Arzt anruft und sagt: „Kommen sie schnell, ihrem Kind geht es schlecht.“ Gerade am Anfang nach der schweren Infektion, war Angst unser ständiger Begleiter.
Anne: Uns wurde gesagt: „Die Frühchen machen immer einen Schritt vor und zwei zurück.“ Dieses Unstete war schon extrem kräftezehrend.

Wie ging es Ihnen als Paar dabei?
Anne: Grundsätzlich war auf jeden Fall mein Mann der Stärkere und ich die Emotionalere. Wir haben uns aber jeden Tag aufgebaut, Mut gemacht, über unsere Ängste gesprochen und uns gegenseitig gestärkt. Das hat uns als Paar noch einmal so richtig zusammengeschweißt.
Frederick: Es ist ja nicht nur die eigene Geschichte, die man bewältigen muss. Wir haben auf der Intensivstation so viele andere Frühchen gesehen, denen es noch weit schlechter ging als Rosa. Extrem kranke Kinder, bei denen nicht klar war, wie sie sich entwickeln und wir haben Frühchen sterben sehen. All das mussten wir erst einmal verarbeiten.

Wie war es nach Rosas Entlassung?
Anne: Nach dreieinhalb Monaten wurde unsere Tochter endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Auf der einen Seite war es das Schönste, unser Kind endlich zu Hause zu haben, auf der anderen Seite hatten wir totale Angst, weil wir nach einem rundum überwachten Klinik-Alltag plötzlich auf uns allein gestellt waren. Wir mussten erst einmal lernen, Rosa als „normales Baby“ zu behandeln.
Frederick: Meine Frau hat mindestens zwanzig Mal am Tag gefragt: „Atmet sie noch?“ (lacht)

Hatten Sie in Ihrem Alltag Unterstützung?
Anne: Ohne unsere routinierte und herzliche Nachsorgeschwester vom Bunten Kreis Rheinland, wären wir aufgeschmissen gewesen. Den Erstkontakt gab es bereits damals in der Klinik, anschließend kam sie einmal in der Woche zu uns und war auch darüber hinaus immer für uns da. Sie hat uns wirklich sehr entlastet.
Frederick: Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man ohne sozialmedizinische Nachsorge den Übergang von der Klinik nach Hause schaffen soll. Man fühlt sich plötzlich sehr allein, hat nicht mehr diese engmaschige Überwachung wie in der Klinik und plötzlich sind da tausend Fragen.

Wie geht es Rosa heute?
Anne: Ihr geht es super. Sie ist ein total fröhliches Kind und robbt hier fleißig durchs Haus. Wir können es oft immer noch nicht glauben, was aus dem „kleinen Vögelchen“ geworden ist.

Zwillingsfrühchen – Ein Besuch bei Familie Heydebreck

Eigentlich hatte sich Familie Heydebreck ihre Zukunft ganz anders vorgestellt. Die gelernte Make-up-Artist und Frisörin Antje Heydebreck plante, gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Jonathan (13) und Teo (3) zu den Schwiegereltern nach Fehmarn zu ziehen, weil dort die Chancen auf einen gut bezahlten Job für Vater Michael wesentlich besser seien als in Köln. Aber dann wurde sie schwanger und das Ultraschall-Ergebnis im 3. Monat war ein Schock für die sie: Zwillinge. Jonathan beginnt gerade zu pubertieren, Teo soll in den Kindergarten, mag sich aber nicht recht von der Mutter lösen, der Vater arbeitet in einer Kneipe, meist erst nachmittags bis in den späten Abend, und Babykleidung für Mädchen gibt es auch keine im Haushalt Heydebreck. Also plant die werdende Mutter kurzerhand um und begibt sich erst einmal auf die Suche nach finanzieller Unterstützung.

Dann traten in der 25. Schwangerschaftswoche Komplikationen auf, der Bauch wurde hart, in der Klinik stellten die Ärzte ein Fetofetales Transfusionssyndrom fest. Ein Schock für die Mutter, wieder machten sich Ängste und Unsicherheiten breit. Nach kurzer Überlegung – viel Zeit blieb den Eltern nicht - entschieden sie sich für einen Kaiserschnitt im 7. Monat Schwangerschaftsmonat. Die Alternative wäre eine Laser-Therapie gewesen, die die Blutkreisläufe der Kinder bereits vor der Geburt trennt, damit der Kampf um den Mutterkuchen nicht zum Kampf ums Überleben wird. Allerdings, ganz so sicher, den richtigen Weg gegangen zu sein, ist sich Antje Heydebreck bis heute nicht. „Wer weiß, vielleicht hätten es beide geschafft und wären erst viel später und kräftiger auf die Welt gekommen.“ Die Kölner Frauenklinik überwies die Mutter nach Bonn. Hier in der Uni-Frauenklinik kam am 10. Mai 2014 Lille mit 700 Gramm und Schwesterchen Miina mit 780 Gramm auf die Welt.

Die Zwillinge bleiben mit ihrer Mutter vier Wochen auf der Neonatologischen Intensivpflegestation der Bonner Uniklinik. Dort hört Frau Heydebreck erstmals etwas über den Bunten Kreis, als ihr die Vorsitzende Inka Orth eine Vase mit einer kleinen Blume überreicht und zum Muttertag gratuliert. Der enge Kontakt zum Bunten Kreis ist seit diesem Tag nicht abgebrochen.

Nach vier Wochen werden die Zwillinge in die Bonner Kinderklinik verlegt; Miina und Lille müssen sich beide einer Darm-Operation unterziehen. Die Mutter pendelt weitere 3 Monate zwischen Köln-Mühlheim und Bonn mit einem von Freunden geliehenen Auto, den kleinen Teo meistens mit an ihrer Seite. Die beiden verbringen viele Stunden im Elterncafé „Atempause“ in der Kinderklinik, wo der Bunte Kreis jeden Dienstag einen sog. Frühchentreff zum Erfahrungsaustausch für Eltern Frühgeborener anbietet. Nachsorgeschwester Dagmar Kirsche vom Bunten Kreis berät die Familie hier in allen wichtigen Fragen rund um die Versorgung von Zwillingen und Frühgeborenen. Angefangen bei den Problemen, Mini-Kleidungsstücke für die Zwillinge zu beschaffen, Unterstützung zu beantragen oder aber dabei zu helfen, ein Überwachungsgerät und eine Enterale Ernährungspumpe für Zuhause anzumieten, der Bunte Kreis wusste Rat. Er vermittelte der Familie auch einen ambulanten Pflegedienst. „Der Bunte Kreis hat alles für uns geregelt, ohne ihn wäre Lille vielleicht heute noch in der Klinik“ so Heydebreck.

Jonathan und Teo werden immer wieder bei Freunden untergebracht, dann springen die Angehörigen der Mutter ein. Nach vier Monaten kann Miina nachhause entlassen werden. Die schwächere Lille bekommt eine Hirnblutung, muss intubiert werden und kann erst vier Wochen später zu ihrer Familie. Heute schläft Lille die meiste Zeit, von 22 bis morgens 8 Uhr begleitet sie ein ambulanter Pfleger, den Blick auf den immer wieder piependen Überwachungsmonitor gerichtet. Lille wird noch einige Monate überwacht und künstlich ernährt werden müssen; wegen ihres Kurzdarms wird sie wohl ihr Leben lang auf ihre Ernährung achten müssen.

Die Mutter ist dankbar für die Unterstützung, die sie auch zuhause vom Bunten Kreis bekommt. Nachsorgeschwester Britta Neumann hat die Familie bereits in der Klinik kennen gelernt. Sie hat für eine gute Überleitung der Zwillinge nachhause gesorgt und schaut regelmäßig vorbei, gibt Ratschläge, packt mit an oder vermittelt Unterstützung von außerhalb. So gibt es immer wieder Probleme mit dem Einsatz von Pflegekräften über den ambulanten Pflegedienst, vor allem für die Tagesschicht. Oft gibt es für die Nachtschicht gar keine Ablösung und die Mutter ist mit ihren beiden Zwillingen solange alleine, bis die Brüder nachhause kommen und der Mutter helfen. „Mal eben so losgehen an den Rhein zu einem Spaziergang, das geht gar nicht.“ Knapp 80 Minuten benötigt sie für die Vorbereitungen dazu. Allein das sterile Abstöpseln der Geräte bei Lille mit OP-Unterlage, sterilen Tupfern und Mundschutz dauert 20 Minuten. „Alles in allem haben wir großes Glück gehabt, dass die Katastrophen so gut ausgegangen sind“ meint die Mutter. „Was uns fehlt ist ein Auto. Und ich möchte einfach mal irgendwo hingehen und die Zeit vergessen dürfen, mal nichts tun müssen.“ Dies gönnt sich die Mutter mit ihrer Modelfigur meist nachts so gegen 3 Uhr, wenn alle schlafen. Dann endlich isst auch sie etwas und trinkt mit dem Pflegepersonal einen Tee.