„Mama, ich liebe mein neues Leben.“
Zweimal schon hat Mona Mierzwa versucht, diesen einen ganz bestimmten Brief zu schreiben. Einen Brief, in dem sie sich bei der Spenderfamilie dafür bedankt, dass sie ihrem Sohn Maxime ein neues Leben geschenkt hat. Jeder Versuch, ihre tiefe Dankbarkeit in Worte zu fassen, ist gescheitert. Seit der lebensrettenden Transplantation ist kein Tag vergangen, an dem sie nicht an diese andere Familie gedacht hat. Die Familie, die ihr Kind verloren und in den schwersten Stunden ihres Lebens dennoch eine so wichtige Entscheidung getroffen hat. Sie hat Maxime ein Leben ermöglicht, das jetzt, sechseinhalb Wochen nach der Transplantation, schon so viel besser ist, als in den vergangenen zehn Jahren. Maxime wird leben, wird wieder Fußball spielen können, neue Sportarten ausprobieren und sein Bronze-Schwimmabzeichen machen. All das schien bis vor kurzem noch undenkbar, denn Maxime galt als austherapiert.
Ich treffe den Zehnjährigen an einem Nachmittag im April bei ihm zu Hause. Er liest in einem „Wer Wie-Was-Buch“ und schaut dabei immer wieder hinüber zu seinem Stoffhasen. Dem hat er nämlich gerade ein neues Herz transplantiert. Doch Hasi geht es gut – er erholt sich schnell. Eigentlich darf Maxime derzeit keinen Besuch empfangen, zu groß wäre die Gefahr einer Ansteckung aufgrund des noch sehr geschwächten Immunsystems. Doch Maximes Mutter macht eine Ausnahme für mich, weil sie ihre Geschichte erzählen und anderen Familien Mut machen möchte. Mona erinnert sich an einen Tag, im sechsten Schwangerschaftsmonat, der ihr ganzes Leben verändern sollte:
„Als ich morgens zur Pränataldiagnostik ging, dachte ich noch, gleich erfahre ich, dass auch unser drittes Kind ein Junge wird. Was man mir stattdessen sagte war: Ihr Kind hat nur ein halbes Herz. Man zeigte uns drei Alternativen auf: Einen sofortigen Schwangerschaftsabbruch, ein Austragen bis zur Geburt, mit dem Wissen, dass das Kind danach maximal sechs Wochen überlebt oder eine Operation direkt nach der Geburt. Wir haben uns für die letzte Variante entschieden, auch wenn wir damals noch nicht wussten, was auf uns zukommt. Die Aussage der Ärzt*innen war, dass unser Kind drei Operationen benötigen würde, danach aber ein relativ normales Leben führen könne. Dem war leider nicht so.“
In Monas Erinnerung gibt es nur ein einziges gutes Jahr in Maximes Leben, das von 2018 bis 2019. Danach erkrankte ihr Sohn am „Kawasaki Syndrom“, einer Entzündung der inneren Organe und Arterien. Zeitweise ist nicht klar, ob Maxime überlebt. 2023 kommt die Diagnose: „Bronchitis Plastika“ hinzu, eine schwerwiegende Kreislaufkomplikation, die bis zum Kreislaufversagen führen kann. Innerhalb eines Jahres hält zehnmal der Rettungswagen vor Maximes Haus und jedes Mal ist es lebensbedrohlich.
Maximes Leben und das seiner Geschwister besteht aus vielen Einschränkungen. Es gibt keine spontanen Ausflüge, alles muss genau geplant werden und meist geht es ihm danach körperlich noch schlechter. „Es gab Wochenenden, die waren sehr schön, dafür hing Maxime dann aber die nächsten Tage durch“, sagt Mona. „Irgendwann haben wir beschlossen: Für einen schönen Tag, drei anstrengende Tage – das steht in keiner Relation.“
In den Kindergarten kann Maxime nur mit einer 1:1 inklusiven Betreuung gehen, aber auch das nicht lange, denn im Regelkindergarten hat man zu viel Angst vor der Verantwortung mit einem schwerkranken Kind. Erst der Wechsel in einen Heilpädagogischen Kindergarten bringt die gewünschte Entspannung.
2023 zeichnet sich immer mehr ab, dass Maxime austherapiert ist, was im Klartext bedeutet: Es gibt keine Chance auf eine Besserung, Maxime wird sterben. Einziger Ausweg – eine Herztransplantation. Und so wird er am 14.12.2023 gelistet. Was seine Mutter damals noch nicht weiß: Genau 441 Tage werden vergehen, bis sie den sehnsüchtig erhofften Anruf erhält. 441 Tage voller Hoffen, Bangen, Angst, Sorge und manchmal auch schierer Verzweiflung. Denn immer ist da die Frage: Werden wir diesen Wettlauf gegen die Zeit gewinnen?
441 Tage legt Mona ihr Handy nicht mehr aus der Hand und zuckt bei jedem Anruf zusammen. Irgendwann fängt sie an, mit Hilfe von Maximes Bonuspapa, dem neuen Mann an ihrer Seite, eine Bucketlist abzuarbeiten, weil nicht klar ist, wieviel Zeit noch bleibt. Maxime will unbedingt mit den Füßen ins warme Meer, da nur Reisen innerhalb Deutschlands erlaubt sind, fährt sie mit ihm ins Tropical Island und von da aus nach Berlin, denn Maxime möchte einmal auf den Fernsehturm.
441 Tage. Bis das Telefon klingelt. In einem Augenblick, in dem niemand damit gerechnet hätte. „Tatsächlich waren wir gedanklich nie weiter davon entfernt, als an diesem Tag“, erinnert sich Mona. „Es war Weiberfastnacht und wir wollten einfach nur Karneval feiern. Maxime war in der Schule und ich mit meinem Karnevalsverein unterwegs. Mein Handy klingelte inmitten Feiernder und ich wunderte mich, als ich die Nummer des Herzzentrums sah. Ich dachte, sie wollen einen Untersuchungstermin verschieben, doch der Arzt sagte: ‚Atmen sie dreimal tief durch, ich versuche ihnen gerade zu sagen, dass wir ein Spenderherz für Maxime haben‘. Danach bin ich weinend auf der Straße zusammengebrochen.“
Doch viel Zeit zum Sammeln bleibt nicht, denn jetzt muss alles sehr schnell gehen. Mona rast in die 40 Kilometer entfernte Schule, wo zeitgleich mit ihr ein Rettungswagen eintrifft. Er soll Maxime ins Krankenhaus nach Neuwied bringen, dort wartet schon ein Helikopter, der sie ins Herzzentrum nach Bad Oeynhausen fliegt. Einzig Maxime ist zu diesem Zeitpunkt die Ruhe selbst und antwortet auf die lebensverändernde Nachricht: „Ich habe da jetzt keine Zeit für, ich muss Karneval feiern.“ Und tatsächlich fliegt Maxime im Superheldenkostüm zur Herztransplantation.
Für Mona beginnt eine Achterbahn der Gefühle. „Um 12:52 kam der Anruf und um 16:15 war Maxime bereits auf dem Weg in den OP. Dann ging die Tür zu, ich stand ganz alleine davor und hatte Angst, ihn nie wieder zu sehen.“
Fast zwölf Stunden dauert die Operation, weil der damals künstlich angelegte Herz-Kreislauf zunächst komplett zurückverlegt werden muss. Eine Herztransplantation mit dieser Ausgangslage gilt nach wie vor als große Herausforderung. Fünf Tage liegt Maxime im künstlichen Koma, an Aschermittwoch darf er wach werden und das erste, was er nach der Extubierung sagt ist „Alaaf“. Schon 24 Tage später kann er mit seinem neuen Herz das Krankenhaus verlassen.
Noch ist sein Leben eingeschränkt. Er darf das Haus nicht verlassen, keinen Besuch empfangen und im ersten Jahr nach der Transplantation nur keimfreie und fettreduzierte Nahrung zu sich nehmen. Dass er keine Salate essen darf, stört ihn weniger als die Tatsache, dass auch Fast Food verboten ist. Doch Maxime merkt täglich, wie viel besser es sich mit seinem neuen Herzen lebt. „Mama, ich liebe mein neues Leben“, sagt er oft einfach zwischendurch und virtuell kann er sogar schon wieder zur Schule gehen. Dort sitzt für ihn ein Avatar, der mit seinem Tablet verbunden ist, so ist er weiterhin Teil der Klassengemeinschaft. Für Maximes Mutter heißt es in erster Linie: Putzen, putzen, putzen – die Umgebung muss so keimfrei wie möglich sein. All das macht sie gerne, ihr macht vor allem die emotionale Herausforderung zu schaffen.
„Tatsächlich habe ich zehn Jahre lang Angst gehabt, Maxime zu verlieren“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Wir haben so viele Situationen erlebt, die wirklich grenzwertig waren. Ich hatte Maxime oft im Arm und dachte, dass es das letzte Mal sein würde. Aber jetzt wird mein Kind leben. Anstatt neben einem totkranken Kind zu sitzen, werde ich Maxime demnächst zu jeder Sportart fahren, die er ausprobieren will. Unser aller Leben als Familie hat nach zehn Jahren eine neue Chance bekommen.“
Vielleicht sind es ja gerade diese berührenden Worte, die Mona eines Tages formulieren und an die Spenderfamilie schicken wird. Bis dahin hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Organspende-Ausweise zu verteilen und auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen.

05.05.2025 – Yvonne Lange