Weltnierentag

Erst drei Wochen nach der Geburt durfte ich mein Kind zum ersten Mal im Arm halten

Als ich an der Haustür von Familie Ebertz klingele, reißt mir der eineinhalbjährige Bastian begeistert die Tür auf und zeigt mir seine Spielzeugautos, mit denen er im Wohnzimmer Rennen fährt. Auf dem großen Familiensofa erzählt mir seine Mutter Julia ihre Geschichte. Im Arm hält sie den kleinen Manuel, er ist erst drei Monat alt und schwer krank. Eine Sonde steckt in seiner Nase, aus seinem Bauch kommt ein Kabel. Sie möchte anderen Eltern Mut machen, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind.

Können Sie sich und Ihre Familie kurz vorstellen?
Ich bin Julia, 33 Jahre alt und komme aus Kasachstan. Seid 2005 lebe ich in Deutschland. Wir sind eine Patchworkfamilie. Ich habe zwei Kinder aus meiner ersten Ehe: Daniel ist 15 und Milena 13 Jahre alt. Bastian und Manuel sind die gemeinsamen Kinder mit meinem Verlobten. Wir werden in zwei Monaten heiraten.

Gab es irgendwelche Auffälligkeiten während ihrer vierten Schwangerschaft?
Nein, überhaupt nicht. Ich hatte eine perfekte Schwangerschaft. Das einzig Skurrile war, dass Manuel laut Ultraschalluntersuchung eigentlich ein Mädchen werden sollte. Wir hatten uns nur einen Mädchennamen überlegt und auch die Erstausstattung war eher rosa gehalten. Sein errechneter Geburtstermin war der 30. Dezember, aber drei Wochen vorher hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Mein Rücken tat weh und ich dachte, ich würde Fruchtwasser verlieren. Meine Hebamme riet mir, sicherheitshalber ins Krankenhaus zu fahren. Dort stellten die Ärzte fest, dass mein Muttermund schon drei Zentimeter geöffnet war. Was sie aber mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass ich zu wenig Fruchtwasser hatte. Im Laufe der Nacht bekam ich regelmäßige Wehen und dann ging alles sehr schnell. Innerhalb von zwei Stunden war unser kleiner Sohn auf der Welt.

Wie waren die ersten Momente nach der Geburt für Sie?
Es war furchtbar. Ich hörte mein Kind nicht schreien. Dafür wurde die Hebamme sehr bestimmend und rief sofort nach weiteren Ärzten. Ich fragte die ganze Zeit: „Was ist mit meinem Kind, warum schreit es nicht?“ Mein Verlobter versuchte mich zu beruhigen, aber er sah schon, dass etwas nicht stimmte. Manuel war mit einer Art Säckchen am Kopf geboren worden. Die Ärzte durchtrennten seine Nabelschnur, massierten seinen Brustkorb, legten ihn sofort in einen Inkubator und schoben ihn aus dem Kreißsaal. Ich hatte nur einmal kurz seine Hand berührt.

Wie ging es dann weiter?
Das Säckchen am Kopf wurde als Hirnbruch (Enzephalozele) diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, ob es sich bei Manuel nur um die Ansammlung von Hirnwasser oder auch Hirnmasse handelt. Aber das war noch nicht alles. Seine Lungen waren geplatzt, weil er sofort nach der Geburt reanimiert werden musste und man vermutete, dass beide Nieren nicht arbeiten. Er wurde sofort in die Uniklinik nach Bonn verlegt.

Wann haben Sie Ihren Sohn zum ersten Mal gesehen?
Erst einen Tag später und das war kein Moment, wie ich ihn mir in der Schwangerschaft ausgemalt hatte. Er musste intubiert werden und war umringt von zahlreichen Maschinen. Überall piepste es, dutzende Kabel hingen aus seinem kleinen Körper, der ganz aufgedunsen war. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Es kamen immer neue Diagnosen hinzu und bei vielen wusste ich einfach nicht, was sie bedeuten: „Ihr Sohn muss ab jetzt eine Bauchfell-Dialyse bekommen, da beide Nieren nicht arbeiten“, sagte mir der Professor, und „wir haben im MRT festgestellt, dass ihrem Sohn das Kleinhirnwürmchen fehlt, das kann ein Anzeichen für das Joubert-Syndrom sein.“

Hat sich dieser Verdacht bestätigt?
Die endgültige genetische Untersuchung ist erst in vier Monaten. Aber ich habe sehr viel darüber gelesen und viele Symptome bei Manuel sprechen dafür. Diese Genmutation kann unterschiedlichste Schäden im zentralen Nervensystem hervorrufen. Es ist noch zu früh, um vorherzusagen, wie stark die Beeinträchtigung bei Manuel sein wird. Er kann zum Beispiel blind sein oder taub, eine schwere Behinderung haben oder nur eine leichte, das bleibt abzuwarten.

Wann haben Sie Ihren Sohn das erste Mal im Arm gehalten?
Erst drei Wochen nach der Geburt konnte ich Manuel zum ersten Mal halten. Seine Augen haben wir erst vier Wochen später gesehen. Er konnte sie, weil sein Kopf so geschwollen war, einfach nicht öffnen. Und auch seine Stimme haben wir erst viel später gehört, da er sehr lange intubiert werden musste. Es war eine sehr sehr schwere Zeit für uns. Ich habe mir selbst die Schuld gegeben und mich immer wieder gefragt: „Hätte ich in der Schwangerschaft etwas anders machen können? Warum habe ich es nicht gemerkt?“ Schlussendlich bin ich froh, es nicht früher gewusst zu haben, da eine Abtreibung für uns sowieso nicht in Frage gekommen wäre.

Wer hat Ihnen in dieser schweren Zeit am meisten geholfen?
Meine Schwiegermutter und meine Mutter standen sofort mit gepackten Koffern vor der Tür und haben sich um unsere Kinder und den Haushalt gekümmert. Die waren eine wirklich große Hilfe. Ich hätte nicht gewusst, wie ich es sonst schaffen soll. Zwei Monate lang bin ich jeden Tag morgens eine Stunde nach Bonn gefahren und abends wieder zurück. Auch die Schwestern auf der Kinderstation wurden wie eine Familie für mich. Sie waren so großartig und ich bin jedes Mal mit einem sehr guten Gefühl nach Hause gefahren. Natürlich war mein Mann auch eine große Stütze für mich. Wir haben zusammen gelacht und geweint. Und irgendwann, nach sehr vielen Tränen, habe ich zu mir gesagt: Ich darf mich selbst nicht verlieren. Auch wenn mein Sohn behindert ist, kann er trotzdem ein schönes Leben haben. Ich will für alle meine Kinder stark sein.

Wie hat Ihre Familie auf Manuels Erkrankung reagiert?
Als ich meiner Großmutter in Russland erzählte, was passiert ist, hat sie angefangen sehr zu weinen: „Julia“, sagte sie immer wieder „das ist jetzt für Dein ganzes Leben“. Ich weiß, was sie damit meint. In Russland sind Mütter mit behinderten Kindern oft regelrecht ans Haus gefesselt. Sie bekommen keinerlei Unterstützung. Ich musste meiner Großmutter erst einmal erklären, dass das hier anders ist. Man bekommt Hilfen, es gibt sogar Kindergärten und Schulen für beeinträchtigte Kinder, das alles konnte sie kaum glauben. Ich bin wirklich sehr glücklich, in Deutschland zu leben.

Wie unterstützt Sie der Bunte Kreis?
Im Krankenhaus hatten wir zum ersten Mal Kontakt zu einer Nachsorgeschwester des Bunten Kreis Rheinland, später dann aufgrund unseres Wohnortes unterstützte uns eine Nachsorgeschwester des Bunten Kreis Mittelrhein. Sie half uns zum Beispiel bei der Bauchfell-Dialyse und neben all den medizinischen Fragen auch dabei, Anträge für die Krankenkasse oder den Pflegedienst auszufüllen. Sie hat Termine bei Ärzten gemacht und eine Physiotherapeutin gefunden. Sie war und ist eine unbeschreibliche Hilfe.

Wie sieht Ihr Alltag mit Manuel derzeit aus?
Manuel muss ca. 13 Stunden täglich an die Dialyse. Die machen wir nachts. Wenn wir allerdings einen Termin haben, muss er schon am Nachmittag damit beginnen. Das ist oft schwierig, weil er dann noch sehr agil und beweglich ist und an seinen Kabeln herumreißt. Ich muss ihn jedes Mal davor und danach wiegen, seinen Blutdruck messen und alles protokollieren. Gestern habe ich ihm zum ersten Mal alleine eine Sonde eingelegt und die Katheder gewechselt. Mittlerweile fühle ich mich selbst wie eine Krankenschwester. Früher hatte ich immer Angst. Angst vor Blut, Angst davor ein krankes Kind zu bekommen. Jetzt habe ich vor nichts mehr Angst. Meine Kinderärztin sagte letztens zu mir, sie verleiht mir die goldene Medaille, weil ich das alles so toll mache. Ich konnte das gar nicht verstehen. Wie sollte ich mich denn anders verhalten? Was nützt es denn, wenn ich mich selbst bemitleide? Ich liebe meinen Sohn und will ihn so annehmen, wie er ist.

Wie sind Manuels Prognosen?
Abgesehen von seiner genetischen Erkrankung braucht er in jedem Fall neue Nieren. Wir stehen auf der Transplantationsliste. Ich hätte sofort eine meiner Nieren gespendet, aber ich habe leider die falsche Blutgruppe.

Woher nehmen Sie Ihre Kraft?
Wir sind sehr gläubig, vielleicht hilft uns das. Der Glaube hat uns durch diese schwere Zeit getragen. Überall auf der Welt haben Menschen für uns gebetet. Und Manuel ist ein Kämpfer. Immer wieder sind die Ärzte überrascht, was er schon kann und wie gut er sich entwickelt. Sein Name bedeutet „Gott ist mit uns“ und wir spüren seine Kraft täglich.