Sophia kämpft sich ins Leben

„Ich lasse mein Kind entscheiden, ob es leben will oder nicht“

Tina Niemann lebt mit ihrem Mann Andreas und ihren beiden Töchtern Carla (9 Jahre) und Anna-Lena (8 Jahre) in einem kleinen Ort im Emsland. Die Familie freut sich auf das dritte Kind, doch bei einer Ultraschall-Untersuchung in der 20. Woche stellt die Frauenärztin eine Zwerchfellhernie beim Fötus fest. Bei dieser Erkrankung werden durch ein Loch im Zwerchfell Bauchorgane in die Brusthöhle verlagert und drücken auf die Lunge. Tina Niemann wird an die Uniklinik Münster verwiesen, wo man ihr rät, das Kind abzutreiben.

Wie haben Sie sich in diesem Moment gefühlt?
Allein gelassen und vor den Kopf gestoßen. Es hieß, unser Kind habe eine Überlebenschance von 3 Prozent. Eigentlich wäre es aufgrund der Größe und des Gewichtes des Fötus kaum noch möglich gewesen, die Schwangerschaft abzubrechen, aber man riet uns dennoch dazu. Wir wurden verabschiedet mit den Worten: „Sie haben jetzt drei Tage Zeit, sich zu entscheiden. Haben sie noch Fragen?“

Wie ging es dann weiter?
Wir sind nach diesem Gespräch wie in Trance nach Hause gefahren. Ich konnte mir das alles einfach nicht vorstellen. Ich hatte mein Kind zu diesem Zeitpunkt ja schon gespürt, es ging ihm soweit gut in meinem Bauch. Es ist ganz normal gewachsen und hat zugenommen. Ich habe mich bei meiner Frauenärztin erst einmal darüber informiert, was diese Krankheit für unser ungeborenes Kind bedeutet. Sie hat für uns einen Kontakt zur Uniklinik Bonn hergestellt, wo man auf diese Erkrankung spezialisiert ist. Dort fühlten wir uns sofort gut aufgehoben. Die Kinderärzt:innen haben uns ausführlich erklärt, was passieren kann und was nach der Geburt gemacht werden muss. Danach war mir total klar: Ich breche die Schwangerschaft nicht ab. Ich lasse mein Kind entscheiden, ob es leben will oder nicht. Und wenn ich mir Sophia heute anschaue, denke ich: Eine gute Entscheidung!

Wie verlief die Geburt?
Sophia kam in der 38. Woche per Kaiserschnitt zur Welt. Ich habe sie nur ganz kurz gesehen. Sie ist sofort blau angelaufen und musste intubiert werden. Zur weiteren Überwachung kam sie auf die Neonatologische Intensivstation. Zunächst dachten die Ärzte, sie würde es ohne eine Maschine schaffen, die die Atemfunktion außerhalb des Körpers übernimmt (ECMO-Therapie). Aber ihre Werte waren nicht stabil genug und ihr linker Lungenflügel hatte nur ein Volumen von 30 Prozent. Nach 14 Tagen konnte die ECMO-Therapie beendet und Sophia operiert werden. Die Ärzt:innen haben ihre Zwerchfell-Lücke geschlossen.

Wie lange waren Sie mit Sophia im Krankenhaus?
Ich war vier Monate nonstop in der Bonner Uniklinik und habe meine beiden anderen Kinder während der gesamten Zeit nicht gesehen. Das war sehr schwer für uns alle. Zum Glück wohnen wir im Emsland mit unseren Schwiegereltern zusammen und haben auch meine Schwägerin mit ihrer Familie in unmittelbarer Nähe. Sie alle waren für uns eine unglaubliche Stütze. Natürlich hatte ich zwischendurch den Wunsch, nach Hause zu fahren und meine Kinder in den Arm zu nehmen, aber ich wusste, wenn ich das mache, habe ich nicht mehr die Kraft wieder wegzufahren. Die letzten sechs Wochen waren besonders hart für mich, aber ich habe mich in der Uniklinik sehr gut aufgehoben gefühlt. Die Krankenschwestern und Pfleger:innen dort sind sehr emphatisch und merken, wenn man am Ende seiner Kräfte ist. Sie haben mich oft zu einer Auszeit gezwungen und mich zum Spazieren gehen oder Kaffee trinken geschickt.

Was hat Ihnen in dieser Zeit besonders geholfen?
Ich habe während meines Klinikaufenthaltes sieben andere Mütter kennengelernt. Jede mit einem anderen Schicksal. Wir haben unseren schweren Weg ein wenig geteilt. Rückblickend kann ich sagen: Es war trotz allem eine gute Erfahrung für mich. Ich bin sehr daran gewachsen. Als klar war, dass Sophia und ich bald entlassen werden würden, kam der Bunte Kreis auf uns zu. Ich kannte diese Organisation vorher nicht und konnte mir auch nicht vorstellen, dass es so etwas bei uns im Emsland gibt. Ich fand es großartig, dass bei jeder Frage und Unsicherheit immer jemand für mich da war und mir direkt geholfen wurde.

Wie war es nach der langen Zeit, wieder nach Hause zu kommen?
Ich fühlte mich zunächst wie in einer Ferienwohnung und musste mich an mein eigenes zu Hause erst einmal wieder gewöhnen. Ich fand es beängstigend, plötzlich ganz allein für Sophia verantwortlich zu sein. Anfangs hat mir vor allem der nächtliche Alarm, der ihre Sauerstoffsättigung anzeigte, Sorgen bereitet. Um solche Dinge musste ich mich im Krankenhaus nicht kümmern, da die Krankenschwestern das übernommen haben. Auch da hat mir der Bunte Kreis sehr geholfen. Eine Nachsorgeschwester hat mir ganz genau gezeigt, wie ich Sophia am besten versorgen kann.

Wie geht es Sophia heute?
Sie braucht derzeit noch zusätzlichen Sauerstoff, der ihr über einen Nasenschlauch verabreicht wird. Wenn wir unterwegs sind, müssen wir immer eine Sauerstoff-Flasche mitnehmen. Da wird man beim Einkaufen schon mal komisch angeschaut. Aber das ist mir inzwischen egal.

Gibt es Dinge, die Sophia auch zukünftig nicht machen kann?
Sie sollte die ersten drei Jahre wegen des Lungenhochdrucks nicht fliegen und ich denke nicht, dass sie irgendwann einmal eine Marathon-Läuferin wird. Aber Sport treiben kann sie ganz normal.

Was empfinden Sie dabei, wenn Sie sich ihre Tochter anschauen und an den Satz zurückdenken: „Dieses Kind hat keine Chance“?
Ich empfinde es jeden Tag, jede Minute und jede Sekunde als großes Glück, dass sie hier bei uns ist. Ich war auch schon kurz davor, sie mit nach Münster in die Uniklinik zu nehmen und zu sagen: „Hier, seht sie Euch an! Hier ist das Wunder.“ Das macht man natürlich nicht. Wir freuen uns einfach, dass Sophia unser Leben bereichert, dass sie wächst und zunimmt und viel lacht.

Was raten Sie anderen Eltern in einer ähnlichen Situation?
Das ist schwierig, weil jeder Fall ganz individuell ist. Ich habe Kinder mit einer Zwerchfellhernie gesehen, die nach vier Tagen die Klinik verlassen haben und andere, die noch länger als wir dort waren und deren Kinder dennoch verstorben sind. Ich kann es nachvollziehen, wenn man im Vorfeld sagt: „Nein, ich kann das nicht.“ Man sollte einfach auf sein Inneres hören. Ich persönlich würde es immer wieder versuchen.