„Am nächsten Morgen fuhren wir in die Klinik, um uns von unserer Tochter zu verabschieden.“
In der 29. Schwangerschaftswoche bekommt Anne-Marie C. plötzlich Wehen. Im Krankenhaus stellen die Ärzte ein akutes Fetofetales Transfusionssyndrom fest, eine schwerwiegende Durchblutungs-und Ernährungsstörung. Ein sehr seltenes Phänomen, das bei eineiigen Zwillingen vorkommen kann, die sich eine Plazenta teilen. Die Mädchen Elena und Josephine werden per Notkaiserschnitt geboren. Doch das ist erst der Anfang.
Wie ging es den Zwillingen unmittelbar nach der Geburt?
Anne-Marie C.: Josephine wurde mit 1240 Gramm geboren und es ging ihr verhältnismäßig gut. Wir konnten schon am zweiten Tag mit ihr kuscheln und nach zehn Tagen wurde sie von der Frühgeborenen-Intensivstation auf die normale Frühchen-Station verlegt. Aber Elena hatte von Beginn an stark zu kämpfen. Sie musste sofort intubiert werden und auch ihr Herz hat nicht richtig gearbeitet.
Jan C.: Sie bekam eine Lungenblutung und wir standen „live“ an ihrem Bett, als die Ärzte zusätzlich eine Hirnblutung feststellten. Ihre Nieren funktionierten nicht. Sie wurde mit 980 Gramm geboren. Nach fünf Tagen wog sie über 1500 Gramm – so viel Wasser hatte ihr kleiner Körper inzwischen eingelagert.
Was war in dieser Situation das Schlimmste für Sie?
Anne-Marie C.: Es gab einfach keine positiven Nachrichten. Nach und nach sammelten sich immer mehr, teils schwere Komplikationen an und immer mehr Organe funktionierten nicht richtig. Für mich war es furchtbar zu sehen, dass mein kleines Mädchen Schmerzen hat. Sie war zwar nahezu komplett sediert, aber immer, wenn sie ein wenig zu sich kam, wurde sie extrem unruhig und zog an ihren vielen Zugängen.
Jan C.: Es schien einfach keine Lösungen mehr zu geben. Es stand kurzzeitig der Plan einer Bauchfelldialyse im Raum. Aber alle Ärzte schätzten das Risiko bei einem so winzigen Baby als extrem hoch ein und ohne viel Aussicht auf Erfolg. An dem Punkt angekommen, fingen wir, die Ärzte und das Pflegepersonal an zu überlegen, ob es überhaupt noch erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten für Elena gibt.
Es stand also die Frage im Raum, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten?
Anne-Marie C.: Ja. Dieser Entscheidung gingen natürlich viele Gespräche mit Ärzten, dem Pflegepersonal und zwischen uns beiden voraus. Aber irgendwann wurde klar: Es gibt einfach keine realistische Hoffnung auf Besserung. Ein Arzt sagte zu uns: „Bringen sie ihre große Tochter mal mit, damit sie sieht, dass sie mal zwei Schwestern hatte.“ Das sprach für mich Bände. Sechs Tage nach Elenas Geburt , fand eine Nottaufe statt und wir organisierten einen Sternenkind-Fotografen…
Jan C.: … und am nächsten Morgen fuhren wir in die Klinik, um uns von unserer Tochter zu verabschieden.
Was geschah dann?
Anne-Marie C.: Wir kamen auf die Intensivstation und die Schwester sagte uns, dass sie Urin in Elenas Windel gefunden habe. Das klingt vielleicht profan, aber für uns war es ein riesiges Wunder. Der Ultraschall ergab, dass über Nacht die Nieren ihre Funktion aufgenommen hatten.
Jan C.: Auch das Beatmungsgerät war nicht mehr auf höchster Stufe eingestellt und der Zustand von Herz und Lunge hatte sich deutlich verbessert. Von jetzt auf gleich wurde aus Abschied nehmen Hoffnung. Elena hatte sich zurück ins Leben gekämpft und von diesem Tag an, ging es nur noch aufwärts. Innerhalb einer Woche verlor sie ihre kompletten Wassereinlagerungen und alle Ärzte und Schwestern, die sie sahen meinten: „Das ist doch ein anderes Kind!“
Wie haben Sie diesen Gefühls-Tsunami überstanden?
Anne-Marie C.: Wir haben sehr von unserer älteren Tochter Leonie profitiert, weil sie Struktur in den Alltag brachte. Wir haben morgens alle zusammen gefrühstückt, sie anschließend in die Kita gebracht und wenn wir abends aus der Klinik nach Hause kamen, hatten unsere Mütter für uns gekocht. Wir haben uns gegenseitig gestützt und viel geredet.
Wann durfte Leonie ihre Schwestern das erste Mal sehen?
Jan C.: Fünf Tage nach der Geburt. Für mich war es faszinierend zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit unsere Dreijährige der Situation begegnet ist. Sie hat den Zwillingen im Brutkasten vorgesungen, hat beim Füttern geholfen, sie hatte einfach keinerlei Berührungsängste.
Wie kam der Kontakt zum Bunten Kreis Rheinland zustande?
Anne-Marie C.: Unsere spätere Nachsorgeschwester kam schon in der Klinik auf uns zu. Da sie dort als Kinderkrankenschwester arbeitete, kannte sie die Zwillinge und ihre Vorgeschichte schon. Das war natürlich sehr hilfreich.
Jan C.: Wir waren zu diesem Zeitpunkt einfach übervorsichtig. Da ist die Rücksprache mit einer Kinderkrankenschwester natürlich viel wert. Auch bei Anträgen bezüglich Elterngeld und Frühförderung hat sie uns sehr geholfen. Der Bunte Kreis bietet einem die Möglichkeit, Sicherheit zu gewinnen. Man kommt nicht nach Hause und fällt ins Nichts. Er hat uns den Eintritt ins „normale Leben“ sehr erleichtert.
Wie entwickeln sich die Zwillinge heute?
Anne-Marie C.: Hervorragend! Jeder, der Elenas Entlassungsbrief sieht, glaubt nicht, dass es sich um ein und dasselbe Kind handelt. Elena hängt zwar in ihrer Entwicklung noch immer drei bis vier Wochen hinterher, aber sie kann bisher alles und macht alles.
Jan C.: Ihre damalige Hirnblutung bereitet uns nach wie vor Sorgen, denn im MRT wurde schon ersichtlich, dass der Schaden relativ stark ausgeprägt ist. Die Ärzte gehen davon aus, dass sie zumindest motorische Einschränkungen haben wird, aber noch weiß niemand, wie genau sich Elena weiterentwickeln wird.
Anne-Marie C.: „Dafür hat sich Elena schon gedreht und Josephine noch nicht“. (beide lachen)