Das Einzige, was wirklich nervt, ist die Bürokratie
Vincent ist 15 Jahre alt und ein Wirbelwind. Es gibt kaum Dinge, die er nicht ausprobiert. Er spielt Basketball und Fußball, malt gerne, liebt Musik und zockt Computerspiele. Nur Lesen findet er überhaupt nicht spannend. Es ist nur ein einziges, winziges Chromosom, das ihn von anderen Kindern unterscheidet. Vincent hat das Down-Syndrom. Seine Mutter nimmt uns mit in ihren Familienalltag.
Wussten Sie schon vor der Geburt, dass Vincent Trisomie 21 hat?
Bei der Nackenfaltenmessung in der Schwangerschaft wurde eine Auffälligkeit festgestellt und der Verdacht stand im Raum. Wir wollten aber keine zusätzliche Fruchtwasser-Untersuchung, weil für uns klar war, dass wir alles so annehmen, wie es kommt. Er wurde einen Monat zu früh geboren, kam auf die Intensivstation und als ich ihn das erste Mal im Arm hielt, sagte der Kinderarzt ganz umständlich zu mir: „Sie wissen ja, dass vielleicht, eventuell die Möglichkeit besteht, dass ihr Kind das Down-Syndrom hat.“ Das war mir zu diesem Zeitpunkt längst klar, ich habe das sofort gesehen.
Wie sind sie mit der Diagnose umgegangen?
Natürlich haben wir zwischendurch auch mal gehadert und uns gefragt: „Warum wir? Warum muss das sein?“ Aber für uns gab es nie die Überlegung, die Schwangerschaft zu beenden. Wir haben es allen Freunden und Verwandten auch schon im Vorfeld erzählt, dass die Möglichkeit des Down-Syndroms besteht. In unserem direkten Umfeld haben alle sehr gut darauf reagiert. Nur beim Spazieren gehen haben einige Leute anfänglich komisch geschaut, aber da muss man lernen drüber zu stehen.
Was hat Ihnen am meisten geholfen?
Der Kontakt zu anderen Familien mit Down-Syndrom-Kindern. Ich hatte schon während der Schwangerschaft Kontakt zu einer Familie, deren Tochter zwei Jahre älter ist und es hat mir sehr geholfen zu sehen, wie ganz normal deren Alltag mit Kleinkind ist. Später habe ich dann eine sehr gute Selbsthilfegruppe gefunden. Für mich war es immer wichtig, die Möglichkeit des Austausches zu haben. Viele Kontakte von früher gibt es heute noch.
Was ist für Sie im Alltag am schwersten?
Bei Vincent wurde vor drei Jahren eine Zöliakie (Gluten-Unverträglichkeit) festgestellt. Darüber hinaus hat er leider zusätzlich noch eine Diabetes entwickelt. Das bedeutet: Wir müssen regelmäßig seinen Blutzucker messen und Insulin berechnen. Das gestaltet unseren Alltag natürlich noch schwieriger. In der Schule beispielsweise hat man sich zunächst geweigert, ihm das Insulin zu spritzen, mittlerweile kann er es zum Glück selbst. Lediglich die Berechnungen müssen wir zusammen mit ihm machen.
Besucht Vincent eine ganz normale Schule?
Die ersten fünf Jahre war er auf der Grundschule hier im Ort. Das war super und Vincent danach, weil er so kontaktfreudig ist, bekannt wie ein bunter Hund. Im Anschluss ging er zwei Jahre auf eine Gesamtschule, das hat leider überhaupt nicht funktioniert und letztendlich haben wir uns für eine Förderschule entschieden. Integration und Betreuung waren dort einfach besser. Die Idee von Inklusion ist oft gut gemeint, aber bei der Umsetzung hapert es. Ich bin eigentlich gelernte Pädagogin, kann in meinem Beruf aber nicht arbeiten und haben mir eine selbstständige Tätigkeit gesucht, die ich von zu Hause aus machen kann. Alles andere funktioniert einfach nicht. Wenn sie ein Kind in Inklusion auf einer normalen Schule haben, brauchen sie immer einen Schulbegleiter. Wenn der krank ist, kann das Kind nicht in die Schule. Das macht kein Arbeitgeber lange mit.
Wo wünschen sie sich mehr Unterstützung?
Vor allem bei der Bewältigung von Anträgen. Die Bürokratie nervt. Wir erleben oft völlig absurde Dinge. Vincent hat einen Schwerbehindertenausweis. Als er 10 Jahre alt wurde, hatten wir eine Überprüfung und mussten alle Unterlagen erneut einreichen. Ich habe dann beim zuständigen Amt angerufen und die Leute gefragt: „Denken Sie das Down-Syndrom wäre plötzlich weg?“ So etwas nervt mich einfach. Da werden Gutachter eingeschaltet, man beschäftigt die Mütter, man beschäftigt die Ärzte, das Amt – das sind Kosten, die völlig unnötig sind und es frisst so viel Energie.
Was macht Ihnen Mut?
Ganz klar solche Vereine wie der Bunte Kreis Rheinland. In unserer Selbsthilfegruppe hatte ich von den Freizeitangeboten für Kinder mit Beeinträchtigung erfahren. Das fand ich super. Vincent hat auch schon früher die Ferien bei seinen Großeltern verbracht, daher war er es gewohnt auch mal ein paar Tage ohne uns zu sein. Aber sein erstes Ausflugs-Wochenende zusammen mit anderen Kindern war etwas ganz besonderes. Er hatte viel Spaß und war sehr stolz auf sich. Es fühlte sich einfach so normal an. Im letzten Herbst gab es eine inklusive Ferienfreizeit für Kinder mit und ohne Beeinträchtigung. Eine Woche lang haben sie zusammen eine Zirkusvorführung einstudiert. Ich hatte im Vorfeld keine besonderen Erwartungen, aber als die Kinder ihre Aufführung vor uns Eltern hatten, war ich sehr gerührt. Es war so toll zu sehen, wie selbstverständlich sie alle zusammen agiert haben. Ich wünsche Vincent ganz viele von diesen tollen Momenten.
Wie sehen Sie Vincents Zukunft?
Eigentlich wünsche ich mir für ihn ein von uns unabhängiges Leben, zum Beispiel in einer Wohngemeinschaft. Allein mit seinem Down-Syndrom wäre das vermutlich auch machbar. Seine Diabetes und Zöliakie allerdings werden das vermutlich erschweren. Ich weiß nicht, ob er mit der Verantwortung des Berechnens allein zurecht kommen wird. Aber wie jede Mutter wünsche ich mir, dass er einmal ein unabhängiges, glückliches Leben führen kann.