„Wir mussten neun Jahre für eine Diagnose kämpfen …“
Silvia Kögler hat vier Kinder und zwei Enkel. Ihr drittes Kind Svenja entwickelt unmittelbar nach der Geburt heftige Krampfanfälle, die sich nahezu jede Nacht wiederholen. Später wird man bei ihr das „Dravet-Syndrom“ feststellen, eine seltene, genetisch bedingte, neurologische Erkrankung, die sich unter anderem durch schwere epileptische Anfälle äußert. Doch bis es zu dieser Diagnose kommt, vergehen qualvolle Jahre.
Wann haben Sie das erste Mal bemerkt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt?
Unmittelbar nach der Geburt. Svenja war gerade zwei Wochen alt und ich ging einkaufen. Meine damals 18-jährige Tochter passte auf sie auf. Svenja war auf ihrem Arm eingeschlafen und begann plötzlich heftig zu krampfen. Das war natürlich für uns alle ein riesiger Schock. Ich fuhr sofort ins Krankenhaus, wo man mir sagte, es handele sich vermutlich um eine Verdauungsstörung, die Krampfanfälle auslösen kann. Intuitiv habe ich damals schon gespürt, dass diese Diagnose falsch ist.
Wie ging es dann weiter?
Die Anfälle kamen immer häufiger. Man riet uns, immer noch ausgehend von einer Verdauungsstörung, mit ihr auf dem Arm Treppen zu laufen. Das haben wir, weil wir es nicht besser wussten, natürlich auch getan. Während wir mit ihr stundenlang Treppen stiegen, lief sie blau an und krampfte. Wir taten genau das Gegenteil von dem, was geholfen hätte. Erst als Svenja 14 Monate alt war, diagnostizierte man bei ihr Epilepsie. Ich war damals schwanger mit Kind Nummer vier, Svenja bekam jede Nacht Krampfanfälle und wir schliefen nie. Es war die Hölle. Irgendwann wurde uns klar, dass hinter all dem noch mehr stecken muss.
Was meinen Sie damit?
Die Anfälle wurden immer heftiger. Sie lag teilweise tagelang im Wachkoma. Währenddessen konnte sie nicht sprechen, sich nicht bewegen. Einmal schrie der Notarzt: „Wir verlieren sie.“ Wir haben dutzende Fachärzt*innen und Spezialist*innen aufgesucht und waren in verschiedenen Krankenhäusern. Svenja entwickelte sich nicht entsprechend ihres Alters und viele Dinge passten nicht zu einer „normalen“ Epilepsie. Wir baten immer wieder um eine genetische Untersuchung, aber die wurde uns verwehrt. Erst als wir zusagten, diese selbst zu bezahlen, wurde sie veranlasst. Die Diagnose lautete „Dravet-Syndrom“ und zu der Erleichterung, endlich zu wissen, welche Krankheit unserer Tochter hat, kam die Wut, dass sie neun Jahre lang nicht die Behandlung erhalten hat, die sie gebraucht hätte.
Wie äußert sich die Krankheit?
Ich erinnere mich noch an die Worte der Ärzt*innen, die sagten: Sie müssen damit rechnen, dass sie ihre Tochter morgens tot im Bett auffinden, viele Menschen sterben an dieser Krankheit. Bis heute ist das für mich das Schlimmste. Seit 20 Jahren betrete ich morgens voller Angst ihr Zimmer, weil ich nicht weiß, ob sie noch atmet. Diese Krankheit ist wie eine schlechte Wundertüte, es kommt immer wieder etwas Neues hinzu. Jeder Tag ist anders und vieles hängt davon ab, ob sie nachts einen Anfall hatte. Svenja lebt im Hier und Jetzt. Sie hat kein Zeitgefühl, kann sich nicht alleine die Haare machen oder die Schuhe binden. Sie wird nie ein eigenständiges Leben führen können.
Wie hat Svenjas Krankheit Ihr Familienleben beeinflusst?
Es ist schwer für mich, dass ich immer abrufbereit sein muss und nie genug Zeit für meine anderen Kinder oder Enkelkinder habe. Mal spontan einen Kaffee trinken gehen, war mit mir nie möglich. Seit 20 Jahren sind wir als Ehepaar nicht mehr alleine in den Urlaub gefahren. Eine Zeitlang ging es mir psychisch sehr schlecht und ich bekam Panikattacken. Diese immerwährende Angst, dass Svenja sterben könnte, wurde einfach zu viel für mich. Es hat mir auch sehr weh getan, zu sehen, wie sehr unser jüngster Sohn unter all dem gelitten hat. Oft wurde er morgens wach und ich war nicht da, weil Svenja nachts einen Anfall hatte und ich wieder mit ihr ins Krankenhaus musste. Er entwickelte große Verlustängste. Das Gefühl, nicht allen Kindern gleichermaßen gerecht geworden zu sein, zerreißt mich manchmal.
Gibt es auch etwas, das Ihnen Mut macht?
Svenja fährt im Herbst zusammen mit dem Bunten Kreis Rheinland auf eine Ferienfreizeit. Zum ersten Mal wird sie dann ohne uns und wir ohne sie Urlaub machen. Also fast. So ganz alleine können wir sie nicht fahren lassen, weil wir die Betreuer*innen mit Svenjas Anfällen nicht alleine lassen wollen. Wir fahren zeitgleich mit dem Wohnmobil auf einen benachbarten Campingplatz und sind da, wenn man uns braucht. Aber für uns fühlt sich das schon nach einer tollen Auszeit an.