„Bei so einer Entscheidung kann einem niemand helfen“

Vanessa, 33 Jahre alt, kennt ihren Mann schon aus dem Kindergarten. Seit 17 Jahren ist sie mit ihm zusammen, seit drei Jahren verheiratet. Tochter Laura kommt vor acht Jahren auf die Welt und soll in jedem Fall ein Geschwisterchen bekommen. Nach drei Fehlgeburten ist Vanessa wieder schwanger. Doch in der 17. Schwangerschaftswoche hat sie einen Blasensprung.

Wie ging es Ihnen damals?
Meine Psyche war total im Keller. Nach drei Fehlgeburten hatten mein Mann und ich uns gesagt: Das ist die letzte Schwangerschaft. Noch einmal probieren wir es nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt sah auch alles gut aus und wir freuten uns riesig auf unseren Familienzuwachs. Nach dem Blasensprung musste ich einige Zeit zur Beobachtung ins Krankenhaus. Das war keine einfache Zeit. Ich konnte aufgrund von Corona kaum Besuch bekommen, mein Mann war allein mit unserer Tochter zu Hause und wir alle machten uns große Sorgen um unser ungeborenes Kind.

Was geschah dann?
Zunächst sah es ganz gut aus. Ich verlor zwar nach wie vor Fruchtwasser, aber das Kind wuchs und nahm zu. Einige Zeit später wurde ich zur weiteren Diagnostik in die Uniklinik nach Bonn überwiesen, wo es plötzlich hieß, es gäbe nur eine 50:50 Chance. Man konnte uns nicht sagen, ob das Baby überleben und wenn ja, ob es nicht eine schwere Behinderung haben würde. Man stellte uns vor die Alternative abzutreiben.

Wie geht man mit so einer Aussage um?
Es war einfach alles zu viel für mich. All die Fachbegriffe der Ärzte, die ich nicht verstanden habe. Ich wollte nach Hause, weil ich diese Entscheidung auf keinen Fall ohne meinen Mann in diesem Klinikumfeld treffen wollte. Ich konnte einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen und fragte mich die ganze Zeit: Willst Du das Deinem Baby antun? Was ist, wenn wir wirklich ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringen? Wird es leiden müssen? Was, wenn es doch gesund ist? Werde ich mir nicht eines Tages vorwerfen, mein Kind abgetrieben zu haben? Vier Wochen lang haben wir uns Tag und Nacht mit diesen Fragen gequält.

Was gab den Ausschlag, sich doch für das Kind zu entscheiden?
Ganz ehrlich? Die Zeit. Wir haben sie mehr oder weniger an uns vorbeilaufen lassen. Ab der 24. Schwangerschaftswoche ist das Baby auch außerhalb des Mutterleibs lebensfähig und eine Abtreibung kam dann nicht mehr in Frage. So lange haben wir einfach abgewartet. Ab dann war klar: Wir probieren es einfach und geben dem Kind eine Chance.

Wann kam Ihr Kind dann zur Welt?
In der 26. Schwangerschaftswoche kam unser Sohn Mike mit 36 Zentimetern und 1.230 Kilogramm per Kaiserschnitt zur Welt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch noch nicht gewusst, dass es ein Junge wird. Er kam sofort auf die Frühchen-Intensivstation und wurde beatmet. Nachts wurde ich dort hingeholt, weil er einen Schlaganfall erlitten hatte und seine Sauerstoffsättigung sehr abgesackt war. Er sah so schlimm aus. All die Nadeln. All die Schläuche. Er wäre zweimal fast gestorben und ich konnte einfach nur neben ihm liegen und hoffen. Es war genau das eingetreten, wovor ich solche Angst gehabt hatte. Er hatte die Geburt zwar überlebt, musste aber schon so kämpfen.

Wie ging es dann weiter?
Gefühlt haben wir uns von Operation zu Operation gehangelt. Zunächst hatte Mike Blutungen im Kopf und bekam einen Shunt gelegt, um die Flüssigkeit abzuleiten. Als das geschafft war, musste sein Leistenbruch operiert werden. Insgesamt lag er dreieinhalb Monate im Krankenhaus und wir sind jeden Tag 70 Kilometer aus dem Westerwald nach Bonn gefahren, um bei ihm zu sein.

… und dann kam der Tag, an dem Sie endlich nach Hause durften?
Ja. Allerdings mit Sauerstoffgerät, Monitor und unter großer psychischer Belastung. Wir wurden im Krankenhaus 24 Stunden rund um die Uhr versorgt und überwacht und plötzlich mussten wir das alles alleine schaffen. Niemand hatte uns beispielsweise gezeigt, wie wir die Sauerstoffbrille wechseln oder ähnliches. Die ersten Tage und Nächte waren schlimm. Ich konnte kaum schlafen vor Sorge. Aber dann bekamen wir Unterstützung von unserer großartigen Nachsorgeschwester des Bunten Kreis Rheinland.

Wie sah diese Unterstützung aus?
Ich hätte das hier zu Hause alleine definitiv nicht geschafft. Sie hat mir geholfen die ganzen Arzttermine zu koordinieren, Anträge zu stellen und Therapiemöglichkeiten zu finden. Aber auch bei alltäglichen Fragen, war sie immer für uns da. Wir konnten uns voll und ganz auf unser Kind konzentrieren, das war ein wunderbares Gefühl.

Wie geht es Mike heute?
Das größte Geschenk ist, dass er mittlerweile ohne Sauerstoffgerät auskommt. Wir können jetzt das Haus mit ihm ganz normal verlassen. Eine Zeit lang fühlte ich mich wie Hulk. Babyschale, Sauerstoffgerät, Monitor, da war an spontane Ausflüge nicht zu denken. Mike bekommt Physiotherapie, muss regelmäßig zum Arzt und nach wie vor kann man nicht sagen, ob er motorische Beeinträchtigungen haben wird. Es kann zum Beispiel sein, dass er Spastiken entwickelt, aber das wird sich vermutlich erst in einem Jahr zeigen.

Was war und ist für Sie das Anstrengendste?
Die Unsicherheit. Die große Frage, wie er sich entwickeln und ob er eine Behinderung haben wird. Lange Zeit war ich nicht glücklich, konnte kaum noch Freude empfinden, weil die Sorge um ihn so groß war. Aber wie heißt es so schön: Man wächst mit seinen Aufgaben. Und es ist wahr. Zuerst haben wir nur funktioniert, aber jetzt sind wir als Familie zusammengewachsen und stärker geworden. Wir versuchen positiv zu denken.

… wenn Sie einen Wunsch frei hätten?
Dann dass Mike gesund ist. Das wäre mein größter Wunsch.