Hauptsache gesund!

Familienleben mit Dravet-Syndrom

Auf die Frage, ob man sich einen Jungen oder ein Mädchen wünscht, antworten viele werdenden Eltern: „Hauptsache gesund!“ Was aber, wenn das Kind krank oder behindert zur Welt kommt? Ist es dann weniger liebenswert? Auch Selina und ihr Mann Jens hatten andere Vorstellungen von einem Familienleben, doch dann wurde bei ihrem Sohn Emil ein seltener Gendefekt diagostiziert.

Um welche Erkrankung handelt es sich dabei?
Als Emil acht Monate alt war, wurde bei ihm das Dravet-Syndrom diagnostiziert – eine komplexe Form der Epilepsie. Es ist eine seltene neurologische Erkrankung, von der etwa einer von 15.000 Menschen betroffen ist. Kinder und Erwachsene mit dem Dravet-Syndrom leiden nicht nur unter schwer kontrollierbaren Anfällen, sondern auch unter unterschiedlich ausgeprägten geistigen Behinderungen und einem Spektrum damit verbundener Erkrankungen zu denen Autismus, ADHS, Schwierigkeiten im Verhalten, beim Sprechen, der Mobilität, dem Essen und Schlafen gehören können. Die meisten Menschen mit Dravet-Syndrom können später kein eigenständiges Leben führen.

Wie äußert sich die Erkrankung bei Emil?
Bisher geht es Emil glücklicherweise gut. Meist kommt es ab dem zweiten Lebensjahr zu einer Verlangsamung der Entwicklung, die aber erst im Verlauf deutlicher wird. Er ist ein aktives Kind und fordert uns viel, was aber auch bei einem gesunden Kind nicht anders wäre. Seine Erkrankung ist für uns eher emotional eine Belastung, weil wir uns große Sorgen um seine Zukunft machen. 15-20 Prozent der betroffenen Kinder sterben einen plötzlichen an einem plötzlichen Tod durch Epilepsie oder infolge eines Statuts Epilepticus, das sind langanhaltende Anfälle, die insbesondere in den ersten Jahren auftreten können. Diese Zahlen schweben immer wie eine schwarze Wolke über uns.

Die Medikamentöse Einstellung ist schwierig, denn Anfallsfreiheit wird selten erreicht. Meist nehmen Betroffene für eine Anfallskontrolle drei oder mehr Medikamente ein und damit gehen wiederum Nebenwirkungen einher. Hinzu kommt, dass jedes Kind anders auf die Medikamente reagiert, weshalb es oft ein ausprobieren ist. Derzeit geht es Emil so gut, dass er nur ein Medikament benötigt, doch jeder Tag ist eine Momentaufnahme. Heute zum Beispiel wurde er geimpft und das ist oft auch mit Fieber verbunden. Diese Temperaturschwankung kann schon genügen, um einen weiteren Anfall auszulösen. Andere Kinder wiederum reagieren auf emotionale Reize, Licht oder Übermüdung. Es gibt ganz unterschiedliche Auslöser für die Krampfanfälle und diese können sich auch immer wieder ändern.

Wie haben Sie die erste Zeit nach der Diagnose erlebt?
Wir waren wie gelähmt. Ich hatte eine perfekte Schwangerschaft und Geburt und plötzlich ist es so, als würde jemand einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Auf der einen Seite ist da eine extreme Angst um das eigene Kind und auf der Anderen eine große Ungewissheit vor der Zukunft. Selbst jetzt, fast ein Jahr nach der Diagnose, erleben wir immer noch schlimme Momente. Doch es wird besser, auch weil mein Mann und ich anfangen anders zu denken. In unserer Gesellschaft werden Tod, Krankheit und Behinderung leider verschwiegen, bzw. sehr verhalten thematisiert. Während der Schwangerschaft redet niemand über Krankheiten oder Behinderungen. Es wird zwar immer häufiger  über das Down-Syndrom gesprochen, aber es gibt noch so viele andere Gendefekte. Damals, als wir die Diagnose erhielten, haben wir auch bei Freunden und Verwandten festgestellt, dass sie damit überfordert sind. Wenn alles gut läuft, gratuliert jeder, aber wenn nicht, hat man das Gefühl, alleine zu sein.

Was müsste sich in unserer Gesellschaft Ihrer Meinung nach ändern?
Ich bin letztens mit Emil Aufzug gefahren und es ergab sich ein Gespräch. Eine Frau sagte: „Oh ein Junge, wie schön, ich habe zwei Mädchen und mir immer einen gewünscht.“ Eine ältere Frau antwortete daraufhin: „Hauptsache gesund“. Man sieht Emil seine Erkrankung nicht an und ich empfinde solche Aussagen in solchen Momenten als sehr verletzend, denn seine Krankheit macht ihn ja nicht weniger liebenswert. Manchmal wünschte ich mir, alle Menschen, die kranke oder beeinträchtigte Kinder haben, würden an einem Ort zusammenleben, dann gäbe es diese Stigmatisierung nicht mehr. Das ist natürlich unrealistisch. Aber wenn es uns als Gesellschaft nicht gelingt, viel mehr Berührungspunkte zu schaffen, wird sich auch das Denken nicht verändern.

Wie hat Sie bei alldem der Bunte Kreis Rheinland unterstützt?
Neben der Tatsache, dass ich unsere Nachsorgeschwester alles fragen konnte und sie uns bei allem so gut es ging unterstützt und gestärkt hat, fand ich vor allem die Vermittlung der unterschiedlichen Kontakte, wie zum Beispiel zu Logo- oder Ergotherapie hilfreich. Auch die regelmäßigen Treffen, um mir Stück für Stück ein Netzwerk aufzubauen, haben mich bereichert. Ich bin einem Verein beigetreten, in dem viele andere Eltern sind, deren Kinder eine Beeinträchtigung haben und ich engagiere mich ehrenamtlich für den Dravet-Verein. Manchmal sind diese Vereine Fluch und Segen zugleich. Wenn man in den Selbsthilfegruppen ein Bild davon bekommt, wie schlimm die Krankheit verlaufen kann, führt das zu einer extremen Überforderung. Als ich zum ersten Mal gelesen habe, was die Diagnose bedeutet, habe ich gedacht: „Das will ich nicht“. Da begann eine Abwehrreaktion, doch irgendwann kann man die Augen vor der Realität nicht mehr verschließen. Austausch ist daher essentiell wichtig.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Während meiner Schwangerschaft habe ich meinen Master in Wirtschaftswissenschaften und Politik für das Lehramt an Berufskollegs abgeschlossen, aber an arbeiten ist momentan nicht zu denken. Vielleicht können wir Emil irgendwann zu einer Tagesmutter geben, aber man weiß momentan nicht, in welche Richtung er sich entwickelt. Wenn er zum Beispiel täglich Anfälle bekäme, wäre das schwierig. Ich merke allerdings, dass ich irgendwann wieder etwas anderes machen muss, um aus meiner Gedankenspirale herauszukommen. Ich suche mir Dinge, die mir Energie geben und meine Ängste in Schach halten. Und Emil gibt uns viel zurück. Wir lieben ihn, so wie er ist: Ein lebensfrohes Kind, dass uns auf Trab hält. Ich bin froh, dass ich meinen Mann an meiner Seite habe. Ohne ihn würde ich es nicht schaffen und wir glauben daran, dass wir als Familie daran wachsen. Emil wird seinen Weg gehen und wir möchten ihn dabei mit all unserer Kraft und Liebe unterstützen.

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