Izabella

Familie Zariqi

Izabella

Izabella fegt im Fußballtrikot durch die Kölner Erdgeschosswohnung. Die Fünfjährige ist ein echter Wirbelwind und man kann sich kaum vorstellen, dass sie bereits drei Jahre ihres Lebens im Krankenhaus verbracht hat.

„Wir kennen alle Stockwerke der Klinik“, sagt ihre Mutter Sylvia und zählt die Stationen an den Fingern ab: „Rheuma, Intensiv, Infektionen, Onkologie…“ Die wechselvolle Geschichte, die dahintersteht, ist eine, die es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gar nicht geben dürfte. Sie beginnt, als Izabella acht Monate alt ist.

„Plötzlich bekam unsere Kleine Fieber und es ging einfach nicht mehr weg“, erinnert sich Sylvia Zariqi an die Anfänge. Eine Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken beginnt, bis endlich die Diagnose steht: Izabella leidet an einer sehr seltenen kindlichen Rheumaart, die die inneren Organe angreift. Die Entzündungen ziehen sich durch ihren ganzen Körper. Da sie noch zu jung ist, um starke Rheumamedikamente zu verkraften, bleiben nur hohe Cortisongaben und Biologika. Arzneien, die mit Hilfe von Gentechnik in lebenden Zellen hergestellt werden.

„Wir mussten die Biologika auf eigene Gefahr selbst geben. Es gab keine andere Option“, erzählt Sylvia. Das Medikament ist zu dieser Zeit noch nicht zugelassen und so verabreicht sie ihrem Baby die Spritzen selbst. In der Packungsbeilage liest Sylvia von Lungenentzündung als Nebenwirkung und wundert sich daher zunächst nicht, als Izabella Lungenprobleme bekommt. „Aber das waren schon die Vorboten einer anderen Krankheit.“

Nur eines der Kinder, die im Jahr in der Kinderklinik Sankt Augustin wegen Rheuma behandelt werden, bekommt ein Makrophagenaktivierungssyndrom (MAS). Es ist eine Erkrankung des Immunsystems, bei der Abwehrzellen des Körpers im Rückenmark stark erhöht sind. „100 darf ein Mensch maximal davon haben, Izabella hatte schon 3.000, als es festgestellt wurde.“ Da ist sie zwei Jahre alt. Ihr Zustand verschlechtert sich dramatisch. „Sie hat keine Luft mehr bekommen, weil sie Wasser in der Lunge hatte. Mein Kind war komplett schwarz angelaufen, die Lunge, die Leber - alles war angegriffen“, berichtet Sylvia von der schrecklichen Nacht.

Izabella kommt sofort auf die Intensivstation, erhält Spritzen mit Antibiotika, Chemotherapie. Als die Nieren versagen, wird sie in die Kölner Uniklinik verlegt. „Dort hatte sie zweimal einen Herzstillstand und musste reanimiert werden.“ Und doch: Izabella schafft es, sich ins Leben zurück zu kämpfen. Einen Monat liegt sie in der Klinik. Ihre Hände und Füße bleiben noch lange schwarz. „Zeitweilig hieß es, sie müssten amputiert werden“, sagt Sylvia immer noch entsetzt und schaut auf die gesunden Hände ihrer Tochter, die am Küchentisch steht. Die kleinen Nägel sind rot lackiert und nichts erinnert mehr an diese schwere Zeit.

Nach der Uniklinik kommt Familie Zariqi zum ersten Mal mit der sozialmedizinischen Nachsorge des Bunten Kreises Rheinland in Kontakt. „Wir hatten damals zusätzlich zu allem anderen ein Problem. In der Wohnung in der wir lebten, gab es einen starken Schimmelbefall“, erzählt Sylvia. „Die Ärzte sagten uns, wir müssten sofort umziehen.“ Aber die Familie hat weder Zeit noch Kraft, sich mit dem Vermieter auseinanderzusetzen und sich nach einer anderen Wohnung umzusehen.

Vater Naim hat wegen seiner vielen Fehlzeiten den Job als Gerüstbauer verloren und musste einen neuen finden. Mutter Sylvia kümmert sich rund um die Uhr um ihre Tochter. „Izabella war damals in einem schlechten Zustand, konnte noch nicht laufen und nicht gut schlucken. Alle zwei Stunden musste ich ihr Kalium und Natrium geben und Fieber messen“, erzählt sie von dieser harten Zeit. Die Angst sitzt der Mutter in den Knochen. „Es war klar, wenn es über 38 Grad Celsius hinausgeht, heißt das sofort ins Krankenhaus. Bei jeder Messung habe ich gezittert.“

Es ist Nachsorgeschwester Jutta Flier aus Bonn, die die Familie in dieser Situation auffängt. „Sie war immer für uns ansprechbar, hat uns so viele Tipps und Hilfestellungen gegeben“, sagt Sylvia dankbar. Jutta ist da, als der Medizinische Dienst der Krankenversicherung kommt, um Izabellas Pflegestufe festzustellen. Sie kämpft mit der Familie für eine neue Wohnung und erreicht schließlich, dass der Vermieter ihnen zwei Monatsmieten erlässt und den Umzug bezahlt. „Egal was wir für Probleme hatten, wir haben Schwester Jutta angerufen und sie hatte immer einen Rat für uns.“

Als es Izabella zunehmend besser geht, nimmt der Kontakt ab. Einige Monate lang hört die Nachsorgeschwester kaum etwas von den Zariqis. Ein gutes Zeichen. Und doch ist Izabellas Odyssee noch lange nicht zu Ende. „Auch wenn es ihr besser ging, kam ihr MAS-Wert nie auf ein Normalmaß“, sagt Sylvia. Sie braucht in dieser Zeit weiterhin Medikamente, die ihr Immunsystem unten halten, hat viele fiebrige Infektionen. „Und dann kam die Blasenentzündung und wir haben sie nicht mehr wegbekommen. Von Dezember bis März musste Iza immer wieder Antibiotika nehmen, aber es half nichts.“

Irgendwann stellt der Arzt fest, dass die Vierjährige ungewöhnlich blass ist. Ein Bluttest ergibt: Ihre MAS-Werte liegen wieder bei 2.000 und der Hämoglobinwert ist sehr niedrig. „Die Ärzte sagten: Sicher ist das Makrophagenaktivierungssyndrom zurück, das kriegen wir mit Cortison in den Griff. Aber das war es nicht. Es war Leukämie…“ Nach einem Dreivierteljahr klingelt an einem Sonntag das Telefon bei Schwester Jutta. Sylvia ist am anderen Ende. Verzweifelt berichtet von der neuen Diagnose.

Ab da ist Jutta wieder an der Seite der Familie. Unterstützt im Krankenhaus, entlastet die Eltern, übersetzt Befunde und spricht Mut zu. Izabella bekommt sofort eine starke Chemotherapie. Noch bevor die Haare ausfallen können, rasiert ihr Sylvia, die Friseurin ist, eine Glatze. Izabella ist begeistert. Das Mädchen, das gerne ein Junge wäre, mit Barbies und Einhörnern nichts anfangen kann und sich viel lieber als Batman verkleidet, findet ihre neue Frisur „so richtig cool“. Bis heute trägt sie die Haare kurz und wird in der Regel für einen Jungen gehalten.

Für die Familie beginnt eine harte Zeit. Isabella braucht regelmäßig Bluttransfusionen und ihr Körper rebelliert – immer wieder. Sie fiebert, zittert, bekommt keine Luft. Vor allem Mutter Sylvia kann es kaum noch ertragen. „Aber Izabella war knallhart“, erzählt sie stolz. „Wenn sie nicht so eine Kämpferin wäre, hätte sie es vielleicht nicht geschafft. Der Arzt sagte einmal: Izabella und ich arbeiten zusammen. Ich mit den Medikamenten und sie mit ihrem Willen.“

Auch Schwester Jutta ist von Izabella sehr beeindruckt: „Ich habe selten ein so starkes Kind erlebt. Trotz allem war sie die meiste Zeit fröhlich.“ Das selbstbewusste Mädchen macht alle Untersuchungen und Behandlungen mit, hadert nicht, klagt nicht. Auch als ihr Mund durch die Chemo völlig entzündet ist oder sie eine Weile lang wieder Windeln tragen muss. „Sie hat das alles immer hingenommen“, erinnert sich Jutta.

Schon zu Beginn der Chemotherapie ist klar: Das schwerkranke Kind braucht eine Knochenmarkstransplantation. Routinemäßig testen die Ärzte auch alle Familienmitglieder und das Los der Unwahrscheinlichkeit, trifft die Zariqis wieder. Dieses Mal jedoch auf gute Weise, denn Izabellas Bruder Qendrim eignet sich als Spender. Im August 2017 steht die Transplantation an. Quendrini ist sechs Jahre alt, seine kleine Schwester vier. Der Junge hat Panik, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Voruntersuchungen. Zu viel Schlimmes hat er bei seiner Schwester schon miterlebt.

In dieser Situation wagen seine Eltern nicht, ihrem Sohn den wahren Grund über die Operation zu sagen. Sie bitten auch die Ärzte an der Uniklinik Frankfurt um Stillschweigen. „Aber sie haben uns beruhigt und gesagt, er wird das schon verstehen.“ Und genauso ist es: „Seit Qendrim wusste, dass er es für seine Schwester tut, hat er nicht mehr gekämpft. Er hat es gerne gemacht.“ Qendrim liegt auf der Onkologie. Izabella wartet ein Stockwerk tiefer auf seine Spende. Alles funktioniert reibungslos und Izabella nimmt die Knochenmarkspende zu hundert Prozent an.

Heute hat sie gute Werte, darf sogar schon einige Impfungen bekommen. „Aber gegen Kinderkrankheiten wie Masern oder Röteln dürfen wir noch nicht impfen lassen.“ Sylvia macht das nervös. Groß ist ihre Angst, Izabella könne an Masern erkranken. Im Wohngebiet gibt es Fälle. Für Izabella könnte eine Ansteckung sehr gefährlich sein. Und so sitzt die Fünfjährige, die nach langer Zeit endlich wieder in den Kindergarten gehen durfte, zu Hause. „Dabei hatte sie sich gerade wieder daran gewöhnt.“

Das Sozialleben leidet, wenn das Kind so schwer krank ist. „Für Freunde haben wir keine Zeit. Aus Angst vor Infekten grenzen wir uns auch von der Familie ab. Wenn schon einer in der Nähe niest, habe ich Angst. Es geht nur darum, dass das Kind gesund wird.“ Ganz anders ist es im Krankenhaus. Dort finden die Eltern der krebskranken Kinder zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. „Wir nennen uns die Onkofamilie und lachen auch viel.“ Auch mit den Ärzten und Pflegern verbindet sie eine besondere Beziehung. „Wenn wir reinkommen, kennen uns alle.“

An keinem Familienmitglied sind die Jahre spurlos vorbeigegangen. Während Vater Naim in der schlimmsten Zeit ein Fels in der Brandung ist, bricht er zusammen, als sie wieder zu Hause sind. Bruder Qendrim zieht sich zurück, schaltet in der Schule plötzlich ab. Die Sorge der Lehrerin, er könne autistisch sein, erweist sich jedoch als unbegründet. In der gemeinsamen Reha auf Sylt versuchen alle, das Erlebte mit Sport und Therapien zu verarbeiten. „Es war anstrengend, aber es hat uns gutgetan.“

Ein leises Durchatmen geht durch die Familie, ein vorsichtiger, hoffnungsvoller Blick in Richtung Zukunft. Vater Naim hat eine gute neue Stelle als Gerüstbauer mit einem verständnisvollen Chef, der auch mal einen Fehltag entschuldigt. Mutter Sylvia träumt davon, irgendwann mal wieder in ihrem Friseursalon zu stehen. Ihr Arbeitgeber hält ihr die Stelle frei, so dass sie jederzeit wieder anfangen könnte. Gerade haben die Zariqis ihre Wohnung gekauft. Jetzt muss noch ein wenig renoviert werden.

Izabella schaukelt vor dem Haus und spielt Fußball mit ihrem Bruder. Schwester Jutta hat ihr Torwarthandschuhe mitgebracht. Der Ball stammt noch aus der Klinik. „Als die Ärzte dort gesehen haben, dass sie gerne spielt, haben sie ihn ihr gekauft und alle unterschrieben.“ Die Unterschriften sind verblasst und so wird es nach und nach auch mit den Erinnerungen geschehen. Sylvia, Naim, Izabella und Qendrim wünschen sich nichts mehr als ein normales Leben. Das wünschen wir ihnen auch.

 

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