Interview

Der Arzt fragte uns: „Ist Ihnen klar, dass ihr Kind sterben kann?“
Anna* ist Mutter zweier Kinder im Alter von 3 und 6 Jahren. Zusammen mit ihrem Mann überlegt sie lange, ob sie sich noch ein drittes Kind wünscht und ist dann sehr glücklich, als sich eine erneute Schwangerschaft ankündigt. Diese verläuft völlig komplikationslos, ebenso wie die Geburt. Leon ist zwar mit 4.870 Gramm ein ungewöhnlich schweres, aber scheinbar kerngesundes Baby, so dass er schon einen Tag später zu Hause seine großen Geschwister kennen lernen kann. Alles scheint perfekt, bis 48 Stunden später der Alptraum beginnt.

Was genau ist zu Hause geschehen?
Zwei Tage nachdem wir die Klinik verlassen hatten, begann Leons linker Arm plötzlich unkontrolliert zu zucken. Zuerst dachten wir uns nichts dabei, doch die Zuckungen kamen häufiger und wurden heftiger. Ich filmte die Szenen und zeigte sie unserer Hebamme, die uns sofort in die Kinderklinik schickte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir noch sicher, dass die ÄrztInnen uns mitteilen, dass es sich um ein ungefährliches Neugeborenen-Phänomen handelt.

Wann haben Sie realisiert, dass die Situation ernst ist?
Wir kamen nach der Erstuntersuchung sofort auf die Neo-Intensivstation, wo diverse Untersuchungen vorgenommen wurden. Ab dann begann eine Abwärtsspirale. Wir bekamen jeden Tag neue Hiobsbotschaften. Eine Messung der Gehirnaktivität ergab, dass Leon einen Hirninfarkt erlitten hatte, wodurch unter anderem epileptische Anfälle ausgelöst wurden. Gegen die Anfälle bekam er Medikamente, die allerdings dazu führten, dass er immer benommener wurde. Er war komplett erschlafft und mehrere Tage bewusstlos. Das waren sehr schlimme Zeiten für uns.

Wie ging es für Sie weiter?
Ich habe von morgens bis abends im Internet recherchiert: „Was bedeutet Hirninfarkt? Welche Auswirkungen hat er?“ Die Ärzt*innen sagten uns, dass man vor allem bei Babys nie genau prognostizieren kann, welche Schäden der Infarkt ausgelöst hat. Zum damaligen Zeitpunkt gingen sie davon aus, dass seine linke Körperseite stark beeinträchtigt und eventuell gelähmt sein wird. Weitere Auswirkungen seien noch unklar. Sie sprachen von einem „Pflegefall“. Ich war nicht in der Lage, das alles zu verarbeiten. Ich habe immer wieder gefragt: Das ist jetzt das schlimmste Szenario. Gibt es auch ein hoffnungsvolles Szenario?“ An den Gesichtern der Ärzte habe ich aber gesehen, dass ich naiv bin und versuche, mir irgendetwas schön zu reden. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Wie geht so etwas? Wann genau wurde aus einem scheinbar gesunden Kind ein schwerer Pflegefall? Wieso haben wir den Hirninfarkt nicht bemerkt? Hätte man früher etwas tun können? Ich habe tagelang nur geweint und niemanden an mich herangelassen. Ich fragte immer wieder: „Wann können wir nach Hause?“, weil ich mir einredete, dort sei eine heile Welt. Ich phantasierte mir alles Mögliche zusammen, bis ein Arzt mich ganz klar fragte: „Ist ihnen klar, dass ihr Kind sterben könnte?“

War Ihnen das klar?
Bis zu diesem Zeitpunkt wollte ich es einfach nicht wahrhaben. Ich war mit der Situation komplett überfordert. Dazu musste ich auch an meine anderen beiden Kinder denken. Wir waren insgesamt zweieinhalb Wochen im Krankenhaus, und sie haben ständig nach mir und ihrem Bruder gefragt. Sie haben Schlafstörungen und Verlustängste entwickelt. Das war für uns alle eine sehr schwierige Zeit.

Wer oder was hat Ihnen damals geholfen?
Unsere Nachsorgeschwester vom Bunten Kreis Rheinland hat uns in dieser schwierigen Zeit aufgefangen. Ich weiß nicht, wie wir das ohne sie hinbekommen hätten. Sie hat uns erklärt, was die nächsten Schritte sind, sich unsere Ängste angehört und versucht, uns diese zu nehmen. Man hat keine Vorstellung davon, was für ein riesiger Papierberg und wie viele Arzttermine auf einen zukommen. Als Eltern ist man da sehr schnell überfordert. Sie hat uns auch eine psychologische Beratung vermittelt, die uns sehr geholfen hat.

Was war das Schwierigste in der ersten Zeit zu Hause?
Unser „Nachhause kommen“ war leider nicht so beruhigend, wie ich es mir erhofft hatte. Im Krankenhaus wurde Leon permanent überwacht. Zu Hause waren wir plötzlich komplett auf uns alleine gestellt. Die Angst war groß, dass er einen erneuten Hirninfarkt erleidet und wir es nicht merken. Damit war ich anfangs völlig überfordert, aber auch mit der Frage: „Wie schildere ich unserem Freundes- und Bekanntenkreis die Situation?“. Sie wussten bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es schwere Komplikationen gab und waren alle freudig gespannt auf unseren frisch geborenen Nachwuchs. Aber der Alltag ging weiter. Wir mussten raus. Es war schwer zu erklären, weshalb wir nicht lächeln, nachdem sie freudestrahlend auf uns zu kamen, um zu gratulieren und zu hören, wie überglücklich wir sind. Alle haben überwältigend reagiert. Von überall kamen Hilfsangebote, um z.B. die Betreuung unserer Kinder zeitweise zu übernehmen. Es wurde sogar Essen für uns gekocht. Das hat uns sehr gerührt.

Gibt es mittlerweile so etwas wie einen Alltag?
Es hat lange gedauert, aber mittlerweile würde ich sagen, wir haben ein „Happy End“. Leon ist jetzt sieben Monate alt und entwickelt sich sehr gut. Wir fördern ihn stark, gehen u.a. zur Physiotherapie und zum Osteopathen. Wir hatten privat Kontakt zu einer Harvard-Professorin, die auf dem Gebiet „Hirninfarkte bei Säuglingen“ forscht. Wir haben ihr alle MRT-Aufnahmen geschickt und sie war die Erste, die etwas Positives prognostiziert hat. Sie vermutet, dass die Beeinträchtigungen nicht so stark wie vorhergesagt ausfallen werden. Diese Aussage war für uns ein Wendepunkt und hat uns viel Kraft gegeben. Leon krabbelt inzwischen, das hätte niemand für möglich gehalten. Er holt nach und nach alles auf und wir hoffen, dass er keine großen Beeinträchtigungen haben wird. Es liegt noch ein langer Weg vor uns. Aber wir haben es jetzt schon so weit geschafft. Wir haben gelernt, dass man die Hoffnung nie aufgeben sollte.

*Die Namen wurden auf Wunsch der Familie geändert.

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